Mittelmeer #16
MARE JONIO rettet 56 Menschen trotz eines bewaffneten Angriffs durch die sogenannte libysche Küstenwache.

03 / Apr / 2024 05 / Apr / 2024

Die MARE JONIO verließ am Mittwochabend, dem 3. April, den Hafen von Syrakus zu ihrer sechzehnten Beobachtungs- und Rettungsmission im zentralen Mittelmeer. In den frühen Morgenstunden des Donnerstags, dem 4. April, nahm sie Kurs auf die SAR-Zone, in der die sogenannten „libyschen Behörden“ operieren. Um 13:45 Uhr und 15:16 Uhr erhielt die Crew E-Mail-Benachrichtigungen von ALARM PHONE über ein in Seenot geratenes Boot mit Motorschaden und etwa fünfzig Personen an Bord, das in internationalen Gewässern trieb – 90 Seemeilen südlich der Insel Malta und 95 Seemeilen nördlich der libyschen Stadt Al-Khoms.

Um 15:57 Uhr hörten wir Funkkommunikation auf Kanal 16 VHF von einem Luftfahrzeug, das wir später als AS1227 BE20, ICAO: 4D206A der maltesischen Streitkräfte (AFM) identifizierten. Dieses übermittelte mehrere Mayday-Relay-Meldungen und aktualisierte Koordinaten des Bootes in Not bei Position 34°18 N - 014°09 E. Trotz wiederholter Versuche antwortete das Flugzeug nicht auf unsere Funkrufe.

Um 16:26 Uhr informierte die MARE JONIO das italienische Seenotrettungszentrum IT MRCC in Rom, dass wir Kurs auf die angegebene Position nehmen würden, um die Lage des in Not befindlichen Bootes zu überprüfen.

Das libysche Patrouillenboot 658 "Fezzan"

Um 16:35 Uhr sichteten wir das Boot mit dem Fernglas und näherten uns zur Lageeinschätzung. Es handelte sich um ein überfülltes Glasfaserboot mit Menschen ohne jegliche persönliche Schutzausrüstung, das mit defektem Motor trieb und akut in Seenot war. Unser Rettungsteam begann daher sofort mit der Verteilung von Rettungswesten an alle Personen an Bord.

Während dieser ersten Hilfsmaßnahmen näherte sich jedoch mit hoher Geschwindigkeit ein libysches Patrouillenboot – die 658 "Fezzan", ein ehemaliges Schiff der Guardia di Finanza, das 2018 von der italienischen Regierung an die libyschen Milizen in Tripolis übergeben wurde. Auf dem Deck befanden sich bereits mehrere Dutzend Menschen, die offenbar bei früheren Abfangaktionen aufgegriffen worden waren. Die libyschen Milizionäre funken die MARE JONIO an, bedrohten uns und forderten, dass wir uns vom Boot entfernen. Gleichzeitig begannen sie gefährliche Manöver um das Boot in Not. Wir antworteten per Funk, dass wir gemäß dem Hamburger SAR-Übereinkommen von 1979 derzeit als OSC (On-Scene Coordinator) agieren und bereits mit der Rettung begonnen hätten.

Daraufhin fuchtelten die Milizionäre an Deck mit Maschinengewehren und feuerten mehrere Salven in die Luft, was Panik unter den Menschen auf dem Boot in Not sowie auf ihrem eigenen Boot auslöste. Die libyschen Milizionäre prügelten mit Peitschen und Knüppeln auf die Menschen ein, einige sprangen ins Wasser, andere wurden hinausgestoßen. In Panik sprangen auch die Menschen vom Glasfaserboot ins Wasser. Innerhalb weniger Minuten befanden sich Dutzende Personen im Meer. Unsere Rettungscrew begann mit dem RHIB-Rettungsboot ABBA1 die Bergung der Schiffbrüchigen. In diesem Moment feuerten die libyschen Milizionäre mehrere Schüsse und Maschinengewehrsalven in Richtung unseres zweiten RHIB ABBA2. Einige Kugeln schlugen weniger als einen Meter von unseren Bootskörpern entfernt ins Wasser ein. Das libysche Patrouillenboot ignorierte alle Aufforderungen zur Einhaltung des Seerechts sowie die Bitten unseres Kommandos an Bord, das gefährliche Verhalten sofort einzustellen.

Unsere Crew bewahrte jedoch Ruhe und konnte bis 17:25 Uhr alle sichtbaren Personen aus dem Wasser retten und sicher an Bord der MARE JONIO bringen. Wir können allerdings nicht ausschließen, dass unter den Personen, die vom libyschen Patrouillenboot ins Wasser gestoßen wurden, Vermisste sind.

An Bord unseres Schiffes leisteten wir erste Hilfe für die geretteten Personen: Alle waren verängstigt und traumatisiert, viele litten unter Unterkühlung, Erbrechen (teilweise durch verschlucktes Salzwasser), Übelkeit, sichtbaren Spuren von Folter während der Haft in Libyen sowie Abschürfungen und Platzwunden durch Misshandlungen durch die libyschen Milizionäre.

Die Zahl der geretteten Personen an Bord der MARE JONIO beträgt schließlich 56 – davon 45 von dem Glasfaserboot, das mit dem von ALARM PHONE gemeldeten Fall übereinstimmt (zwei Personen blieben an Bord und wurden später von den libyschen Milizen gefangen genommen), und 11, denen die Flucht vom libyschen Patrouillenboot gelang. Zeugenaussagen zufolge hatte die sogenannte libysche Küstenwache vor unserem Eintreffen zwei weitere Abfangaktionen durchgeführt – jeweils etwa 85 und 15 Personen von zwei anderen Booten in Not, die alle aus Libyen geflohen waren – insgesamt also etwa 100 Menschen. Alle drei Operationen wurden offenbar von dem maltesischen Militärflugzeug aus der Luft koordiniert, das somit an der Deportation dieser Menschen mitschuldig ist.

Unter den 56 Geretteten an Bord der MARE JONIO befinden sich eine Frau und mehrere Minderjährige. Die Nationalitäten sind: Bangladesch, Syrien (Kurden), Ägypten und Kamerun. Am Abend informierte das italienische Seenotrettungszentrum IT MRCC in Rom über die Zuweisung von Pozzallo als „Place of Safety“ für die 56 Geretteten. Die Ausschiffungsmaßnahmen in Pozzallo wurden am Freitag, dem 5. April, um 15 Uhr abgeschlossen.

„Die Politik der italienischen Regierung und der europäischen Institutionen hat das zentrale Mittelmeer in ein Kriegsgebiet verwandelt“, kommentiert Denny Castiglione, Einsatzleiter von MEDITERRANEA Saving Humans an Bord der MARE JONIO, die Ereignisse der letzten 24 Stunden. „Es ist ungeheuerlich, dass die Milizionäre der sogenannten libyschen Küstenwache Schüsse auf die Schiffbrüchigen im Wasser und die Rettungskräfte abgegeben haben. Das sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“

„Wir sind schockiert vom Ausmaß der Gewalt, die von der sogenannten libyschen Küstenwache ausgeübt wurde. Zugleich sind wir stolz darauf, wenigstens 56 Menschen der Gefangennahme und Deportation in die Hölle Libyens entzogen zu haben, vor der sie geflohen sind. Wir machen die italienische Regierung und die europäischen Institutionen direkt für das verantwortlich, was auf See geschieht: Die tödliche Zusammenarbeit mit den libyschen Milizen muss sofort beendet werden. Es müssen europäische Such- und Rettungsschiffe wieder aufs Meer zurückkehren, und alle in Libyen festgehaltenen Menschen müssen nach Europa evakuiert werden“, schließt Laura Marmorale, Präsidentin von Mediterranea Saving Humans.

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